Alcina
Im Mittelpunkt der Oper steht das Streben nach Liebe. Die Liebe gehört zweifellos zu den menschlichen Grundantrieben und steht im Zentrum jeder Utopie von Glück. Die Macht der Liebe ist indes nicht nur eine positive. Sie kann töten und sie ist umso stärker, je mehr sie in Wirklichkeit scheitert und in das Reich des Imaginären verwiesen bleibt. Alcina ist schon in Händels Fassung ein Erzählstrom aus Täuschung und Realitätsverleugnung, Liebe und Verrat, Hoffnung und Scheitern, Illusion und Wahn – Gegensätze die faszinieren, fragt man nach der zeitgenössischen Relevanz des Stoffes. Alcina, als unwiderstehliche Verführerin bekannt, gerinnt die Liebe zur Macht, bis ihr die wahre Liebe in Gestalt des Ruggiero erscheint und Ihre Welt umstürzt. Der Stoff geht motivisch auf antike Mythen zurück. In Bezug auf Alcina ist dies Kirke – eine Zauberin, die Fremde die auf Ihrer Insel stranden, in Tiere verwandelt. Ihre Verführungskünste sind bekannt und im heutigen Sprachgebrauch weiteraktiv: bezirzen. Der zeitgenössische Ansatz der Produktion basiert auf der Trennung der Darstellungsspuren der Oper. Dies geschieht zentral durch die Trennung von Stimme, Bild und Bewegung. Im Mittelpunkt der Aufführung stehen die fließenden Übergänge von Projektionen, tänzerisch — szenischen Choreografien und Gesang. Electric Renaissanceverlegt den Ort der Handlung – analog einer Insel die Erfüllung verspricht — in den Club der Samstagnacht. Hier nimmt das Beziehungsgewebe seinen Lauf. Die Handlung der Oper wird im Format der Foto-Story im Stile der opulenten und effektvollen Modefotografie erzählt, deren Motive durch Tanz und Gesang ausgestaltet werden — ein Variationsprinzip, dass ganz wie im Barock, seine Grundmotive umspielt und in unserer zeitgenössischen Deutung auf Wiederholung, Schichtung und Multi – Perspektivität beruht. In musikalischer Hinsicht wird Georg Friedrich Händels Fassung – In Konzentration auf ausgewählte Arien — gekürzt und mit elektronischen Sounds und Atmosphären – im Sinne von Hörspielästhetik und Filmmusik – collagiert. (Promotext)
Künstlerische Leitung: Olaf Nachtwey
Dramaturgie: Dr. Jochen Kiefer
Musikalische Leitung: Lorenzo Ghirlanda
Choreografie/Regie: Heike Hennig & Co
Musikalische Bearbeitung: Thies Streifinger
Gesang: Marta Almajano/ Sopran, Allyson McHardy/ Mezzosopran
Das Jugendbarockorchester BACHS ERBEN
Fotos: Joachim Blobel
Halle/MZ von Andreas Hillger, 09.06.08
Ob man Barock-Komponisten als die Erfinder von Loops und Samples bezeichnen darf, ist zumindest fraglich. Sicher aber ist, dass die da-capo-Arien ein frühes Beispiel für die Wiederholung einzelner Passagen in der Musik bieten — und dass Meister wie Händel eigene und fremde Motive in neuen Zusammenhängen zitierten. Dass “Electric Renaissance”, das junge Alternativ-Programm zu den Händel-Festspielen in Halle, aus diesen Techniken einen Teil seines Selbstbewusstseins herleitet, ist in diesem Jahr offensichtlicher denn je.
Dekadentes Völkchen — Immerhin wird mit “Alcina — Fragmente einer Sprache der Liebe” eines der schönsten Bühnenwerke von Georg Friedrich Händel zum Gegenstand einer Recherche. Die Idee, die Geschichte der magisch begabten Inselherrscherin und ihrer Liebesopfer in ihre Einzelteile zu zerlegen, erweist sich zunächst als reizvoll: Die inszenierten Fotos, die auf drei Leinwände über den Zuschauertribünen im Volkspark projiziert werden, zeigen eine dekadente Party-Gesellschaft im modischen Barock-Imitat. Das Jugendorchester “Bachs Erben” erspielt der Landesmusikakademie Sachsen-Anhalt auf seinen historischen Instrumenten höchste Ehren. Und auf der Bühne glücken der Leipziger Tanz-Scene von Heike Hennig anrührende Begegnungen zwischen jungen und alten Tänzern.
Also alles bestens? Jein! Denn die bunten Bilder veranschaulichen zwar Situationen, aber erzählen keine Geschichte — zumal sie mit zunehmender Spieldauer um deutsche Übertitel zu den italienischen Arien sowie mit symbolisch gemeinten Motiven von Vögeln, Insekten und pumpenden Organen verschnitten werden. Als ungefähr in der Mitte des Abends die Namen des “Alcina”-Personals eingeblendet werden, während sich der Tanzboden in einen Catwalk für Models verwandelt, wird das Problem offensichtlich: Keiner der Akteure gestattet eine Identifikation mit Ruggiero oder Bradamante, Morgana oder Oberto. Wo den Körpern sonst eine Rolle zugewiesen wird, bleiben sie hier nur Zeichen.
Daran ändern auch die souveränen Gesangssolistinnen Marta Almajano (Sopran) und Allyson McHardy (Mezzosopran) nichts. Obwohl sie die konzertante Situation gelegentlich aufbrechen und Kontakt zu den Tänzern suchen, ist die dramaturgische Zuweisung ihrer Arien unmöglich — und der Verzicht auf die Rezitative isoliert diese funkelnden Schmuckstücke zusätzlich. Die Übergänge, die Thies Streifinger mit sparsamen elektronischen Klängen setzt, stehen singulär neben barocker Klangrede.
Was bleibt, stiften vor allem die Tänzer: Die unglaublich geschmeidige und präzise Christine Joy Ritter sorgt mit ihren athletischen Partnern Michael Veit und Sven Gettkant für aktuelle Akzente, die 81-jährige Leipziger Ballett-Legende Ursula Cain und ihr Kollege Horst Dittmann setzen die Schönheit und das Selbstbewusstsein des Alters dagegen. Das hat Würde und Eleganz, Kraft und Anmut — und spielt mit den Verwandlungen des Leibes, die auch in “Alcina” Thema sind. Und als im Abspann einige der Models vom Foto-Shooting zu den Tänzern treten, während Lorenzo Ghirlanda seine Musiker zu einer letzten Probe ihres großen Könnens treibt, sind sich die getrennten Ebenen wieder nah — und die Synthese hat sich in ihrer Negation als das Ideal behauptet.
Vollendetes Fragment
Selbst wenn noch nicht alle Bestandteile perfekt abgemischt waren, ist “Electric Renaissance” mit dieser “Alcina” aber endgültig erwachsen geworden. Auf solch seriöser Basis kann man aufbauen, wenn man über die Zukunft der elektrifizierten Barockmusik nachdenkt — und vielleicht demnächst den umgekehrten Weg vom Fragment zur Vollendung geht.